Deutsche Suchtforschung fordert eine evidenzbasierte E-Zigarettenpolitik
In Berlin wurde heute der Alternative Drogen- und Suchtbericht 2019 vorgestellt. Unter dem Schwerpunkt “Tabak und Tabakkontrollpolitik” geht es auf mehr als 50 Seiten des Berichts auch um relevante E-Zigarettenthemen. Autoren der vier Kapitel sind Prof. Heino Stöver, Dr. Bernd Werse, Anna Dichtl und Dietmar Jazbinsek.
1. Großbritanniens Tabakkontrollpolitik: Vorbild für den deutschen Regulierer
Der Frankfurter Suchtforscher Prof. Heino Stöver richtet den Blick auf die Harm Reduction-Politik in Großbritannien: “Wenn man erleben will, wie ein unverkrampfter und faktenbasierter Umgang mit der E-Zigarette geht, muss man nur nach Großbritannien schauen. Dort befassen sich sowohl die Politik als auch verschiedene Gesundheitsinstitutionen seit Längerem unideologisch mit der E-Zigarette und ihrem Platz im Gesundheitswesen. Deutschland kann einiges von diesem Modell lernen.” (S. 42)
In Großbritannien werde der Harm Reduction-Ansatz konsequent umgesetzt und dort, im Gegensatz zu Deutschland, sind die gesundheitlichen Ergebnisse signifikant besser.
Progressive Ansätze, um das Harm Reduction-Potenzial der E-Zigarette zu nutzen
Prof. Stöver empfiehlt den Verantwortlichen in Deutschland, “nach dem möglichen Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union, eine Führungsrolle einzunehmen und mit progressiven Ansätzen das Harm Reduction-Potenzial der E-Zigarette zu nutzen.” (S. 45)
Darüber hinaus müsse sichergestellt werden, dass für dieses Produkt geworben werden darf: “Schon im Alternativen Drogen- und Suchtbericht aus dem vergangenen Jahr haben wir angeregt, dass für die E-Zigarette, in Abgrenzung zur Tabakzigarette, als ein weniger schädliches Produkt geworben werden sollte.” (S. 45)
Ein wichtiger Grund für Werbung sei der niedrige Aufklärungsstand bei der E-Zigarette: “Diese falsche öffentliche Wahrnehmung führt dazu, dass viele Raucher nicht einmal die Möglichkeit eines Umstiegs in Erwägung ziehen.”
In Großbritannien werde “aktiv für die E-Zigarette geworben und es ist ein Eckpfeiler der Regierungsstragie, den Tabakkonsum zu reduzieren.” (S. 46)
2. Die Regulierung von E-Zigaretten-Werbung
Der Soziologe und Gesundheitsjournalist Dietmar Jazbinsek sieht in E-Zigarettenwerbung die Möglichkeit, “Raucher zum Verzicht auf Tabakprodukte zu bewegen und dadurch die Zahl der Tabaktoten zu senken.” Werbung sei so verstanden ein Mittel zur Aufklärung, da die Mehrheit der Bundesbürger das Schadenspotential der E-Zigarette “vollkommen falsch” einschätze. (S. 48).
Zwei Voraussetzungen sind wichtig für Dietmar Jazbinsek: Keine Werbung für den gleichzeitigen Konsum von Tabak- und E-Zigaretten (dual use) sowie keine Ansprache von Jugendlichen durch Werbung.
Der Autor schlägt vor, “eine unabhängige Prüfinstanz einzuschalten, der die Werbemotive vor ihrer Veröffentlichung vorgelegt werden müssen.” (S. 59)
Zigarettenkonsum seit der Etablierung der E-Produkte nochmals deutlich zurückgegangen
3. E-Zigaretten: (k)eine „Einstiegsdroge“ ins Tabakrauchen?
Die Soziologen Dr. Bernd Werse und Anna Dichtl berichten über ihre vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Langzeitstudie zur Verwendung von “elektronischen Dampferzeugnissen (eDe)” unter Jugendlichen. Ein wichtiges Ergebnis der Studie: Die bisherigen Resultate würden “nicht darauf hinweisen, dass eDe unter Jugendlichen bislang zu einer „Re-Normalisierung“ des Rauchens geführt haben – im Gegenteil ist der Zigarettenkonsum seit der Etablierung der E-Produkte nochmals deutlich zurückgegangen.” (S. 62)
Fazit der Autoren: “Die in Deutschland immer noch weit verbreitete Skepsis gegenüber E-Produkten als Schadensminimierungsmaßnahme für Raucher_innen ist also auch im Hinblick auf die Verbreitung unter Jugendlichen offenbar unbegründet.” (S. 66)
4. Einschätzungen zur angeblichen E-Zigarettenepidemie in den USA
Dietmar Jazbinsek befasst sich in einem zweiten Artikel mit der “Juul-Story” und der alarmierenden Debatte über einen “epidemieartigen” Anstieg von jugendlichen Dampfern in den USA. Er sieht eine große Diskrepanz zwischen den Studiendaten und der öffentlichen Diskussion: “Pressemeldungen über „Millionen“ nikotinabhängiger Jugendlicher in den USA – so viel lässt sich schon mal festhalten – widersprechen den Quellen, auf die sich diese Meldungen berufen.” (S. 70)
Die US-Studien würden keine Daten über die tägliche Nutzung von E-Zigaretten bei Jugendlichen abbilden: “Angaben zum täglichen E-Zigaretten-Konsum sucht man in den Veröffentlichungen der aktuellen Umfrageergebnisse jedoch vergeblich. Besonders auffällig ist das bei dem Monitoring the Future-Bericht, der über den täglichen Alkohol-, Marihuana- und Zigarettenkonsum der Schüler und deren täglichen Konsum von Kau- und Schnupftabak Auskunft gibt, dieselbe Information bei den E-Zigaretten aber weglässt.” (S. 69)
Fazit: “Von einer seuchenartigen Vermehrung suchtkranker „Kinder“/ „Kids“ kann keine Rede sein.” (S. 71)
Auch die Theorie, dass Jugendliche durch E-Zigaretten zum Rauchen von Tabakzigaretten verleitet werden könnten, sei nicht haltbar, da “sich der Rückgang der Raucherprävalenzen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich beschleunigt, seitdem E-Zigaretten in den USA populär geworden sind.” (S. 70)
Zu der Übertragung der Aromahysterie in den USA auf Deutschland schreibt Jazbinsek: “Liquid-Sorten, die den Geschmack von Früchten nachahmen, sind seit Langem auch in Deutschland auf dem Markt, ohne dass es hier zu einem Boom des Jugendkonsums gekommen wäre.” (S. 75)
Gerade für Erwachsene sei eine Vielfalt der E-Zigarettenaromen wichtig: “Ein Raucher, der vom Tabak loskommen will, möchte nicht unbedingt einen Dampf inhalieren, der nach Tabak schmeckt. Wer Liquid-Sorten mit Fruchtaroma ganz verbieten oder strengstens reglementieren will, schadet deshalb der Tabakentwöhnung und nutzt der Tabakindustrie.” (S. 92)